Sonntag, 29. August 2010

Latein - Cui bono

Da Blogs angeblich auch der Psychohygiene dienen (der eigenen, nicht der der Leser ;)), werd ich das nutzen, um ein Thema für mich abzuschließen, welches ich schon jahrelang im Hinterkopf habe: Warum Latein (für mich) sinnlos ist.

Argumente
Dazu sammle ich als erstes die Argumente, die mir zum Thema Latein bis jetzt begegnet sind (manche mit, manche ohne Quelle):
  1. Man kann mit Latein andere Fremdsprachen schneller lernen, als da seien Italienisch, Spanisch, Französisch und noch einige mehr. (Higgins 2009), (NN 2009) 
  2. Man versteht die deutsche Grammatik erst richtig, wenn man die lateinische verstanden hat / Latein schärft das Sprachbewußtsein für die deutsche Sprache.(NN 2009) 
  3. Man lernt logisches Denken durch Latein. (Latein hilft ungemein, logische Systeme zu durchschauen und Zusammenhänge einfacher zu finden). (Auslandjahr.eu 2007), (NN 2009) 
  4. Man muss Cäser und die anderen im Original lesen. (Görg 2007) 
  5. Man kann Fremdwörter – auch in anderen Sprachen – leicht aus dem lateinischen ableiten. (NN 2009) 
  6. Man lernt im Lateinunterricht vieles über die Geschichtes des römischen Reiches /europäische Vergangenheit. (NN 2009) 
  7. Latein weckt in jungen Menschen Neugier und Intellektualität. (Charlotte Higgins 2009) 
  8. Latein ist eine Voraussetzung für viele Studienfächer. (NN 2009) 
  9. Der Lateinunterricht diskutiert die Grundprobleme menschlichen Lebens. (NN 2009) 
  10. Der Lateinunterricht diskutiert das Verhältnis des Bürgers zum Staat. (NN 2009) 
  11. Latein ist nicht schwerer als andere Fächer. (NN 2009) 
  12. Lateinunterricht macht Spaß. (NN 2009)
  13. Latein-Lehrer brauchen auch einen Job.
  14. Latein ist wunderbar nutzlos ((Charlotte Higgins 2009), (Görg 2007) )
Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und ist auch nicht in irgendeiner speziellen Reihenfolge, deckt aber die Mehrheit der üblicherweise verwendeten Argumente gut ab, denke ich. Nach Betrachtung jedes Arguments gibt’s noch eine persönliche Bewertung dazu. 

Ad 1.) Man kann mit Latein andere Fremdsprachen schneller lernen. 
Dem zufolge könnte ich leichter weitere Sprachen lernen - wenn ich denn noch die Zeit hätte. Wer im Berufsleben steht, vielleicht noch Kinder hat, der weiß, was ich meine. Wenn ich statt dessen die für Latein verwendete Zeit gleich auf dazu verwendet hätte können, eine weitere Sprache zu lernen, dann könnte ich die schon, statt sie erst lernen zu müssen. Und versuchen Sie mal, z.B. mit einem Franzosen Latein zu reden, wenn Sie nur Latein können – viel Spaß (Anekdoten von Leuten, die sich mit Hilfe von Latein mit einem Italiener verständigt hatten, bleiben davon unberührt).
Allgemein kann man genauso gut sagen, das Erlernen jeder weiteren Sprache erleichtert das Lernen weiterer Sprachen.
Bewertung des Arguments: schon bessere gesehen.

Ad 2.) Man versteht die deutsche Grammatik erst, wenn man die lateinische verstanden hat.
Das würde dann doch auch folgendes bedeuten:
Leute, die nie Latein lernen konnten, können auch nie die deutsche Grammatik richtig verstehen – und somit auch nicht richtig nutzen. Das wäre dann fast ein Schlag ins Gesicht dieser Menschen. Außerdem kann man das auch als Aufwertung derer, die die deutsche Grammatik richtig verstehen, sehen und somit eine Abwertung der anderen daraus ableiten.
Alle jene Menschen, die Deutsch nicht als Muttersprache haben, können das Lernen von Deutsch sowieso gleich aufgeben – sie haben keine Chance. Gar nicht zu denken an all die Menschen, deren Muttersprache mit Latein nicht einmal verwandt ist. Die brauchen nicht einmal im Traum daran zu denken, Deutsch lernen und verstehen zu können.
Und was ist mit den Menschen, deren eigenen Muttersprache auch nicht einfach ist? Die Chinesen haben's dann wohl besonders schwer. Und erst die Finnen mit ihren 15 Fällen (Wikipedia 2010). Die brauchen unbedingt Latein mit seinen sechs Fällen, sonst steigen die da nie durch durch ihre Grammatik...
Bewertung des Arguments: Jo eh...

Ad 3.) Man lernt logisches Denken durch Latein (Latein hilft ungemein, logische Systeme zu durchschauen und Zusammenhänge einfacher zu finden).Soweit ich mich erinnere folgte das Übersetzen entweder einem starren Muster, oder, wenn das versagte, blindem umherstochern im Text bis ich etwas Verwertbares gefunden hatte – zumindest bei mir. Das hat mein logisches Denken nicht wirklich gefördert.
Wollte man logisches Denken fördern, dann gäb's da noch z.B. so 'was wie Mathematik, was ja wohl unbestrittenermaßen äußerst logisch ist. Sudokus lösen förderte übrigens auch logisches Denken.
Meinem logischen Denken hat Latein zumindest nicht geschadet, das ist ja auch schon etwas.
Allein das mit den Zusammenhängen mag ein wenig stimmen, denn oft musste man sich die Wortteile aus den verschiedensten Stellen im Satz zusammensuchen. Um Zusammenhänge zu lernen, gibt’s aber auch probatere Mittel, spontan fallen mir dazu Mind maps und (Fuzzy) Concept maps ein, um nur zwei zu nennen.
Bewertung des Arguments: Mag sein, gibt aber bessere Methoden.

Ad 4.) Man muss Cäsar und die anderen im Original lesen, nur so kann sie richtig würdigen.
Genau. Und Tolstoi, und Joyce, und Shakespeare und den Koran und die Bibel und das Gilgamesch-Epos und und und.
Jetzt etwas weniger flapsig. Mir ist klar, dass bei jeder Übersetzung auch etwas verloren geht oder missinterpretiert werden kann, weil z.B. die Zielsprache manche Konzepte der Quellsprache gar nicht richtig wiedergeben kann (die Übersetzungsfehler und -unklarheiten z.B. in der Bibel sind Legion, die Übersetzung von Ulysses ist auch nicht trivial).
Weiters heißt das aber auch, dass ich in der jeweiligen Sprache denken können muss, damit ich den Text richtig verstehen und nachempfinden kann. Wenn man einen Text aber Wort für Wort übersetzen muss, bleibt nicht mehr viel Energie (und Zeit) für's Lesen und für's würdigen – vor allem, wenn man nicht weiß, ob das jetzt richtig übersetzt wurde von mir. Zum Denken in Latein hab ich es sowieso nie gebracht.
Außerdem fehlt mir der Kontext der gesamten Gesellschaft, was das Verstehen von wesentlich jüngeren Texten als jenen in Latein schon schwierig macht (wer z.B. fremdsprachige Zeitungen liest, weiß, wie viel Kontext man benötigt, um dem Inhalt folgen zu können).
Ich persönlich kann Cäsars Texte auch in einer Übersetzung würdigen...
Bewertung des Arguments: Wir kämen aus dem Sprachen lernen nicht mehr raus, um alle Literatur würdigen zu können. Klappt aber nicht in einem endlichen Leben. Ich kann auch anders würdigen...

Ad 5.) Man kann Fremdwörter – auch in anderen Sprachen – leicht aus dem Lateinischen ableiten.
Ja, stimmt. Das kann man meiner Meinung nach aber auch mit weniger Latein lernen schaffen. Man könnte z.B. die Menge der am häufigsten verwendeten Worte herausfinden (sofern diese Liste nicht schon wo existiert). Diese Liste kann durchaus ein paar hundert Worte enthalten. Dann kann man auch genügend Fremdwörter herleiten. Und falls man etwas nicht herleiten kein, Lexikas und Wörterbücher sind schon seit einiger Zeit erfunden...
Bewertung des Arguments: Hat etwas, aber nicht genug.
Ad 6.) Man lernt im Lateinunterricht vieles über die Geschichte und Gesellschaft des römischen Reiches / europäische Vergangenheit.
Das kann stimmen, hängt aber wohl vom Lehrer ab. In meinem Lateinunterricht ist nicht allzuviel zur römischen Gesellschaft oder deren Geschichte gebracht worden.
Wenn man das bringen will, kann man das auch im regulären Geschichtsunterricht machen.
Europäische Vergangenheit endete in meinem Lateinunterricht mit dem Zerfall des römischen Reiches.
Bewertung des Arguments:Hängt davon ab...

Ad 7.) Es weckt in jungen Menschen Neugier und Intellektualität
Reicht ein Gegenbeispiel? Bei mir hat das nicht Neugier und Intellektualität geweckt. Bei mir waren das eher Bücher von Hoimar von Ditfurth (z.B. Kinder des Weltalls oder Im Anfang war der Wasserstoff) und seine Sendung Querschnitte, oder Carl Sagen mit Cosmos. Das weckt Neugier.
Außerdem sind junge Menschen normalerweise von Natur aus neugierig – und wenn es ihnen in der Schule oder von den Eltern nicht ausgetrieben wird, dann bleibt das auch so. Ist das aber passiert, hilft Latein auch nix.
Bewertung des Arguments: Ja, es weckt Neugier - auf alles außer Latein.

Ad 8.) Latein ist eine Voraussetzung für viele Studienfächer.
Ja, das stimmt. Mann kann Latein aber direkt vor dem Studium nachholen. Das spricht außerdem auch für eine Modularisierung des Unterrichtssystems.
Bewertung des Arguments: Hat was, ist aber ein anderes Problem.

Ad 9.) Der Lateinunterricht diskutiert die Grundprobleme des menschlichen Lebens.
Das wäre mir neu. Hängt aber wahrscheinlich – wie so vieles – vom Lehrer ab. Immerhin hat Latein bei mir zur Schulzeit ein Grundproblem des Lebens geschaffen, das ich nicht nur diskutieren, sonden lösen musste: wie schaffe ich Latein!
Bewertung des Arguments: Hängt vom Glück des richtigen Lehrers ab.

Ad 10.) Der Lateinunterricht diskutiert das Verhältnis des Bürgers zum Staat.
Auch das wäre mit, wie 9., neu. Wenn wir darüber sprachen, kam es auf jeden Fall viel zu kurz.
Bewertung des Arguments: Hängt wohl auch vom Glück des richtigen Lehrers ab.

Ad 11.) Latein ist nicht schwerer als andere Fächer.
Und das hilft uns jetzt genau wofür? Ich kann mir beliebig Fächer ausdenken, die nicht schwerer als andere sind...
Bewertung des Arguments: Welches Argument?

Ad 12.) Lateinunterricht macht Spaß.
Aha. Eine Aussage. Wohl ein Fakt. Sicher allgemeingültig. Da bin ich ja froh, dass das für alle Lateinschüler gilt.
Auch hier gilt: Ich kann mir beliebig Fächer ausdenken, die Spaß machen. Warum ist Latein als Spaßfach dann besser odder wichtiger als ein anderes?
Bewertung des Arguments: Auch hier: welches Argument?

Ad 13.) Latein-Lehrer brauchen auch einen Job.
Ja. Und sie wären nicht die ersten, die umschulen müssen, weil ihnen ihre Branche wegbricht - man denke nur an die vielen Fuhrwerker, die vom Auto verdrängt wurden. Außerdem, kennt noch jemand einen lehrenden Alchimisten? Ich nicht.
Bewertung des Arguments: Wenn sonst schon nichts klappt, dann verwend' ich das Arbeitsplatztotschlagargument – das hat immer noch jede Diskussion und/oder Veränderung zuverlässig gestoppt. Genau.

Ad 14.) Latein ist wunderbar nutzlos.
Also das Argument musste ich erst etwas sitzen lassen um meine Sprachlosigkeit dazu zu überwinden.
Wir lehren unsere Kinder lieber nicht den richtigen Umgang mit Geld, oder wie man Konflikte austrägt, ohne gleich zu Gewalt zu greifen, oder vernetztes Denken, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Nein, wir bringen ihnen etwas „wunderbar Nutzloses“ bei, und geben ihnen dafür auch noch „wunderbar nutzlose“ Noten und lassen sie wegen Versagens in Latein die Klasse wiederholen (somit die Nutzlosigkeit zum Quadrat, oder wie?).
Dieses Argument ist für mich die Bankrotterklärung des Lateinunterrichts. Charlotte Higgins findet ihr Argument aber auch noch ganz großartig. Was Latein offensichtlich so alles anrichten kann...
Der unter dem Artikel verlinkte weitere Artikel mit dem Titel „Argumente der deutschen Humanisten für das Latein-Lernen “ (http://www.humanismus-heute.de/latein/latein.htm) führt dann passendweise gleich ins digitale Nirwana (404).
Bernhard Görg zielt mit seinem Artikel in die gleiche Richtung, auch wenn er (bzw. Thomas Mann) Latein als „kostbare Nutzlosigkeit“ bezeichnet (Görg 2007). Er meint, dass dieser Begriff auch sehr gut die Trennlinie zwischen Bildung und Ausbildung markiert. Er ist überzeugt, dass man „Julius Cäsar“ im Burgtheater mit anderen Augen sieht, wenn man seine Schriften im Original gelesen hat. Allerdings kann man dem genausogut entgegenhalten, dass man z.B. eine Oper in einer Fremdsprache ebenfalls mit anderen Augen sieht, wenn man diese Sprache spricht. Wenn man diese Sprache denn dann schon spräche...
Bewertung des Arguments: Schuss ins Knie (aber nicht in meins).

Studien
Studien wie z.B. diese von Wolgang Lebek stellen zwar fest, dass Studenten mit Latinum besser abschneiden als solche, die über kein Latinum verfügen (Lebek 2004). Allerdings berücksichtigt diese Studie (um bei ihr zu bleiben) nicht, wieviel naturwissenschaftlichen Unterricht die untersuchten Studenten neben Latein sonst noch hatten (denn auch Mathe förder rigoroses Denken). D.h. alle in der Studie festgestellten positiven Effekte kann man damit nicht ursächlich auf Latein zurück führen. In Satz am Schluss stellt er dann fest, dass Jugendlich immer wieder durch Latein besonders gefordert werden. Wie das mit 11. (Latein ist nicht schwerer als andere Fächer) zusammenpasst, ist mir nicht klar.
Außerdem wäre diese Studie erst in einer Gegenüberstellung mit einer Studie interessant, die folgendes untersuchen müsste: Wie schneiden Studenten ab, die kein Latein hatten, dafür aber speziell in den Fähigkeiten unterrichtet wurden, die Latein angeblich fördert (und dafür die gleiche Zeit aufwenden konnten, wie die Lateinschüler).
Erst dann ließe sich eine fundierte Aussage treffen.

Abschluss und Alternativen
Latein ist Vergangenheit, mit einigen Bezügen zur Gegenwart. Das rechtfertig keineswegs z.B. sechs Jahre Lateinunterricht in der heutigen Zeit, in der wir genügend andere Probleme haben, die wir oder unsere Kinder lösen müssen.
Latein per se liefert dafür für mich keinerlei besseres Werkzeug als andere Techniken.
Will man den Bezug zur Vergangenheit auf diese Art und Weise pflegen und auf Latein auf gar keinen Fall verzichten, reicht auch wesentlich weniger Latein, z.B. ein Jahr.
Dazu ein modularisiertes Unterrichtskonzept, schon kann man für Latein darin ein Reservat schaffen und hat auch den Weg zum Studium, welches Latein benötigt offen gehalten.
Die Eigenschaften, die mit Latein gefördert werden sollen, förder ich dann mit adäquaten, zeitgemäßen Methoden.

Für mich ist die Auseinandersetzung um Latein damit auch Vergangenheit. Und falls ich wieder mal in eine Diskussion zum Thema Latein-Unterricht verwickelt werden sollte, dann verweise ich einfach auf dieses Dokument...

R.I.P Latein.

PS: Alle Links wurden am 29.8.2010 geprüft und waren zu dem Zeitpunkt vorhanden (bis auf den sowieso erwähnten 404er).

PS2: Wenn sich jemand wundert, warum ich trotzdem Begriffe wie „Ad“ oder „per se“ verwende: Das hab ich mir mit meinem abgeleisteten Lateindienst wohl verdient...

Quellen

Dienstag, 17. August 2010

Yo yo...

... das war ja mal ein Hype, als ich noch klein war. Aber nachdem ich das gerade gesehen hab:



vergrab' ich meins und rühr' nie wieder eins an... ;)